Die Evangelien von Lukas und Matthäus bieten wertvolle Einblicke in das Leben Jesu, aber sie werfen auch komplexe historische Fragen auf, die seit Jahrhunderten diskutiert werden. Eine der am häufigsten genannten Diskrepanzen betrifft die Volkszählung, die Lukas mit der Geburt Jesu in Verbindung bringt. Lukas 2,1-2 berichtet, dass Jesus während einer Volkszählung geboren wurde, die unter der Aufsicht von Quirinius stattfand. Matthäus hingegen verortet die Geburt Jesu in die Regierungszeit von König Herodes dem Großen, der zwischen 4 v. Chr. und möglicherweise sogar 2 v. Chr. starb.
Hier beginnt das Problem: Der jüdische Historiker Flavius Josephus datiert die Volkszählung von Quirinius auf das Jahr 6 n. Chr., lange nach Herodes’ Tod. Diese scheinbare Diskrepanz hat viele Gelehrte zu der Annahme geführt, dass Lukas einen Fehler gemacht hat. Doch was wäre, wenn es nicht Lukas ist, der sich geirrt hat, sondern Josephus? Der Gelehrte John H. Rhoads hat in einem Aufsatz die Theorie aufgestellt, dass Josephus die Volkszählung des Quirinius möglicherweise falsch datiert hat. Diese Sichtweise verdient eine sorgfältige Betrachtung.
Leseempfehlung: Religionen entdecken: Eine umfassende Übersicht über Ursprung, Entwicklung und Denominationen
Josephus: Ein unfehlbarer Historiker?
Josephus gilt als eine der wichtigsten Quellen für die jüdische Geschichte des ersten Jahrhunderts, doch es gibt zahlreiche Beispiele, in denen er Ereignisse falsch datierte oder durcheinander brachte. Ein oft genanntes Beispiel ist seine Fehldatierung des Baus des Samaritanischen Tempels. Auch in der Erzählung über die Herrschaft von Herodes dem Großen gibt es einige Unstimmigkeiten, etwa seine Angabe, dass Herodes mit 15 Jahren zum Statthalter von Galiläa ernannt wurde – eine Zahl, die viele Historiker für ungenau halten.
Darüber hinaus hat Josephus die Tendenz, Ereignisse aus verschiedenen Quellen zu wiederholen und sie an unterschiedlichen Stellen in seiner Chronologie zu platzieren.
Der Historiker Daniel Schwartz hat herausgefunden, dass Josephus oft dasselbe Ereignis mehrfach erzählt und es fälschlicherweise in unterschiedliche Zeiträume einordnet. Ein prominentes Beispiel ist die doppelte Erwähnung von Agrippa I. in Josephus’ „Jüdischen Altertümern“: Einmal geht es um seine Gesandtschaft nach Judäa im Jahr 38 n. Chr., das andere Mal beschreibt Josephus dasselbe Ereignis so, als ob es zu einem späteren Zeitpunkt stattgefunden hätte.
Die Theorie von John H. Rhoads
Rhoads’ Ansatz ist, dass Josephus einen ähnlichen Fehler bei der Datierung der Volkszählung des Quirinius gemacht haben könnte. Rhoads schlägt vor, dass Josephus die Volkszählung nicht in das Jahr 6 n. Chr. einordnen sollte, sondern in die letzten Jahre von Herodes’ Herrschaft, also etwa 7 bis 5 v. Chr. Wenn dies zutrifft, dann könnte Lukas in seiner Darstellung der Geburt Jesu genauer gewesen sein, als viele annehmen.
Rhoads‘ Argument basiert auf der Analyse mehrerer Berichte von Josephus, die alle einen Aufstand in Judäa unter der Führung eines Mannes namens Judas erwähnen. Diese Berichte umfassen:
- Ein Aufstand vor Herodes’ Tod: Judas, der Sohn eines Mannes aus Sepphoris in Galiläa, führt eine Gruppe von Anhängern an, die ein römisches Symbol aus dem Tempel entfernen. Herodes lässt Judas und seine Anhänger hinrichten.
- Ein Aufstand nach Herodes’ Tod: Ein weiterer Judas, der Galiläer, führt eine Rebellion gegen die Herrschaft von Herodes’ Sohn Archelaus und plündert ein Waffenlager.
- Ein Aufstand zur Zeit der Volkszählung von Quirinius: Dieser Judas, der Galiläer, protestiert gegen die Steuererhebung, die mit der Volkszählung verbunden ist.
Rhoads glaubt, dass es sich bei diesen drei Berichten um dasselbe Ereignis handelt, das Josephus an verschiedenen Stellen in seiner Chronologie falsch eingeordnet hat. Dies ist angesichts der Tatsache, dass Josephus häufig aus unterschiedlichen Quellen schöpft, nicht unwahrscheinlich. Außerdem spielen in allen drei Berichten dieselben Hauptakteure eine Rolle: Judas der Galiläer und der Hohepriester Joazar.
Der Hohepriester Joazar
Ein wichtiger Anhaltspunkt für die Richtigkeit dieser Theorie ist die Rolle von Joazar, dem Hohepriester, der in allen drei Berichten erwähnt wird. Joazar unterstützt Quirinius in der dritten Erzählung bei der Durchführung der Volkszählung, wird aber dennoch von Quirinius abgesetzt. Dies erscheint unlogisch, da Joazar doch Quirinius bei der Beruhigung des Volkes geholfen hatte.
Rhoads argumentiert, dass die Absetzung Joazars tatsächlich nicht im Jahr 6 n. Chr. stattfand, sondern nach Herodes’ Tod, als Unruhen das Land erschütterten. Judas und seine Anhänger forderten nach Herodes’ Tod Joazars Absetzung, und es wäre plausibel, dass Quirinius (oder ein anderer römischer Beamter, wie Sabinus) in dieser Zeit Joazar absetzte, um die Spannungen zu beruhigen. Das Ereignis wurde später fälschlicherweise auf 6 n. Chr. verlegt.
Sabinus und Quirinius: Ein und dieselbe Person?
Ein faszinierender Aspekt von Rhoads’ Theorie ist die mögliche Verwechslung von Quirinius mit einem römischen Prokurator namens Sabinus, der zur Zeit von Herodes’ Tod nach Judäa geschickt wurde, um den Besitz von Herodes zu sichern. Sabinus war in den Berichten von Josephus aktiv an der Verwaltung der Provinz beteiligt, ähnlich wie Quirinius in der späteren Volkszählung.
Rhoads spekuliert, dass Sabinus und Quirinius möglicherweise dieselbe Person waren. Sabinus könnte ein Spitzname gewesen sein, da beide ähnliche Titel und Aufgaben hatten und beide römische Beamte mit Konsulrang waren. Diese Hypothese könnte erklären, warum Quirinius in Verbindung mit Ereignissen auftaucht, die kurz nach Herodes’ Tod stattfanden, obwohl Josephus die Volkszählung auf 6 n. Chr. datiert.
Die Genauigkeit von Lukas
Ein weiteres starkes Argument für Rhoads‘ Theorie ist die allgemeine Zuverlässigkeit des Evangelisten Lukas.
Der Historiker Colin Hemmer hat 84 Fakten in den letzten 16 Kapiteln der Apostelgeschichte identifiziert, die durch historische und archäologische Daten bestätigt wurden. Lukas‘ Genauigkeit in Bezug auf geografische Details, lokale Titel und politische Entwicklungen ist bemerkenswert. Dies deutet darauf hin, dass Lukas auch bei der Datierung der Volkszählung von Quirinius korrekt gewesen sein könnte.
Quelle: The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History
Das Buch „The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History“ von Colin J. Hemer untersucht die Apostelgeschichte im historischen und kulturellen Kontext der hellenistischen Welt. Es beleuchtet die Verbindungen zwischen den Ereignissen der Apostelgeschichte und der griechisch-römischen Geschichte. Buch erwerben
Fazit: Eine plausible Theorie
Die Theorie von John H. Rhoads, dass Josephus die Volkszählung des Quirinius falsch datiert hat, ist eine interessante und plausible Sichtweise, die es wert ist, ernsthaft in Betracht gezogen zu werden. Josephus war zwar ein bedeutender Historiker, doch seine Werke sind nicht frei von Fehlern, insbesondere in Bezug auf Chronologie. Es ist möglich, dass Lukas bei der Datierung der Geburt Jesu genauer war, als viele annehmen. Dies würde nicht nur Lukas rehabilitieren, sondern auch eine tiefere historische Verbindung zwischen den Evangelien und den historischen Ereignissen in Judäa aufzeigen.
Während diese Theorie sicherlich nicht unwidersprochen bleiben wird, bietet sie einen frischen Blick auf eine alte Debatte und zeigt, dass die Geschichte oft komplexer ist, als wir anfangs glauben.
Quellen:
- The Samaritans in Flavius Josephus – Reinhard Pummer
- Flavius Josephus Interpretation and History – Jack Pastor, Pnina Stern, Menachem Mor
- The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, vol 1 – Emil Schürer
- Joseph and Judean Politics – https://www.jstor.org/stable/3260820
- Flavius Josephus – John M. G. Barclay
- A Companion to Josephus – Daniel Schwartz
- Judaism: Practice and Belief – E. P. Sanders
- Background of Early Christianity – Everett Ferguson
- Studies in the Jewish Background of Christianity – Daniel Schwartz
- From Joshua to Caiaphas – James VanderKam
- The Demography of Roman Egypt – R. S. Bagnall and B. W. Frier
- The Lucan Censuses, Revisited – Brook Pearson
- The Book of Acts – Colin Hemer