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Sind Teile des Korans verloren gegangen? Ein moderner Blick auf Hadithe und Abrogation

Das Bild zeigt einen muslimischen Gelehrten in traditioneller Kleidung, der vor einer kleinen Gruppe diskutiert. Er scheint ein komplexes religiöses Thema zu erörtern, vielleicht über den Koran und die Thematik der Abrogation (Nasch), bei der frühere Suren durch spätere aufgehoben werden. Die Gruppe hört aufmerksam zu, während der Gelehrte über den möglichen Verlust oder die Verfälschung von Suren spricht, ein umstrittenes Thema in der islamischen Theologie.

Im Hintergrund sind zahlreiche Bücher und Schriftrollen zu sehen, die vermutlich islamische Texte, einschließlich verschiedener Tafsirs (Koran-Kommentare), darstellen. Das sanfte Licht betont die ruhige Atmosphäre, die für eine tiefgehende theologische Debatte typisch ist.

In der islamischen Geschichte gibt es Hadithe und Berichte, die darauf hindeuten, dass der Koran, wie wir ihn heute kennen, einige fehlende Teile haben könnte. Diese Behauptungen werfen Fragen auf, die sowohl muslimische Gelehrte als auch Forscher immer wieder beschäftigen. Doch was ist an diesen Behauptungen dran, und wie gehen muslimische Gelehrte heute damit um? In diesem Beitrag stützen wir uns auf die Gedanken des islamischen Gelehrten Dr. Shabir Ally, der in einem Video auf QuranSpeaks auf diese Thematik eingegangen ist.

Die Hadithe über fehlende Koranverse

Es gibt Überlieferungen, die behaupten, dass einige Suren des Korans einst länger waren. So findet sich in klassischen Kommentaren zur Sure Al-Ahzab (33. Kapitel des Korans) der Hinweis, dass diese Surah ursprünglich die gleiche Länge wie die Surah Al-Baqarah hatte, die heute das längste Kapitel des Korans ist. Diese Überlieferungen besagen, dass einige Verse nicht in die endgültige Sammlung des Korans aufgenommen wurden.

Das Bild enthält einen Hadith-Bericht aus der Sammlung Sahih Muslim, Buch 12, Hadith 156 (nach dem alten Nummerierungsschema: Buch 5, Hadith 2286). Der Hadith erzählt von Abu Musa al-Ash'ari, der die Rezitatoren aus Basra versammelte. Etwa 300 Rezitatoren kamen zusammen und rezitierten den Koran.

Abu Musa lobte sie als die besten unter den Bewohnern von Basra, weil sie die Rezitatoren des Korans waren. Er mahnte sie jedoch, dass sie beim langen Rezitieren darauf achten sollten, dass ihre Herzen nicht so verhärtet werden wie die der früheren Generationen. In diesem Zusammenhang erwähnte er, dass es früher eine Sure gab, die in Länge und Härte der heutigen Surah al-Baqarah ähnlich war, an die er sich aber nur teilweise erinnern konnte.

Er erinnerte sich an die Aussage:
"Wenn der Sohn Adams zwei Täler voller Reichtümer hätte, würde er sich nach einem dritten sehnen. Und nichts kann den Bauch des Menschen füllen außer Staub."

Zusätzlich erwähnte er eine Sure, die er mit Surahs von Musabbihat verglich, an die er sich ebenfalls nur teilweise erinnern konnte. Ein Vers daraus, den er zitierte, lautete:
"O ihr, die glaubt, warum sagt ihr, was ihr nicht tut?"
Ein weiterer Vers sei:
"Und dies wird als Zeugnis gegen euch aufgezeichnet und am Tag der Auferstehung vorgebracht."

Dieser Hadith deutet auf Verse hin, die früher rezitiert wurden, aber nicht im endgültigen Korantext enthalten sind. Dies könnte eine Diskussion über die Abrogation von Versen im Koran auslösen.
Beispielhadith: Der Hadith berichtet, dass es früher eine Sure gab, die in Länge und Härte der heutigen Surah al-Baqarah ähnlich war, jedoch heute nicht mehr im Koran enthalten ist.

Muslimische Gelehrte der Vergangenheit haben diese Berichte oft durch das Konzept der Abrogation erklärt.

Was bedeutet Abrogation im Koran?

Die Idee der Abrogation besagt, dass Gott, gepriesen sei Er, manche Verse zu einem bestimmten Zeitpunkt offenbarte, sie jedoch später aufhob. Ein Vers konnte für eine bestimmte Situation relevant sein, verlor aber später seine Bedeutung. Diese Sichtweise wird durch einen Vers im Koran gestützt: In Surah Al-Baqarah (2:106) heißt es:
„Was immer wir an Zeichen aufheben oder in Vergessenheit geraten lassen, dafür bringen wir etwas Besseres oder Gleichwertiges. Weißt du nicht, dass Allah Macht über alle Dinge hat?“
Diese Überzeugung führte dazu, dass Gelehrte der Meinung waren, dass einige Verse, obwohl sie offenbart wurden, im endgültigen Text des Korans nicht enthalten sind, da sie von Gott abrogiert wurden.

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Kritik am Konzept der Abrogation

Aus moderner Sicht wird dieses Konzept oft als unnötig und kompliziert angesehen. Einige Muslime und westliche Gelehrte hinterfragen, ob es wirklich Beweise dafür gibt, dass Verse aufgehoben oder entfernt wurden. Der islamische Gelehrte Dr. Shabir Ally weist darauf hin, dass spätere Generationen von Muslimen möglicherweise das Konzept der Abrogation rückblickend entwickelt haben. Diese Idee könnte entstanden sein, um historische Überlieferungen zu rechtfertigen, die von der ursprünglichen Sammlung des Korans abweichen.

Besonders kritisch ist eine bekannte Anekdote, die besagt, dass ein Vers des Korans auf einem Pergament geschrieben war, das unter dem Bett von Aischa, der Frau des Propheten, lag. Eine Ziege habe dieses Pergament angeblich gefressen, was als Erklärung dafür dient, warum dieser Vers heute nicht mehr im Koran zu finden ist. Dr. Shabir bezeichnet diese Geschichte als eine „klassische Hund-hat-meine-Hausaufgaben-gegessen“-Erklärung und weist darauf hin, dass solche Überlieferungen nicht zu den authentischsten der islamischen Tradition gehören.

Moderne Gelehrte und historische Beweise

Trotz solcher Geschichten und Berichte gibt es keine Hinweise darauf, dass Teile des Korans tatsächlich fehlen. Der Historiker William Montgomery Watt argumentiert, dass die Sammlung des Korans in so öffentlicher Weise stattfand, dass alles, was es verdient hätte, aufgenommen zu werden, auch aufgenommen wurde. Wenn etwas nicht in der endgültigen Sammlung ist, dann deshalb, weil es nicht dorthin gehörte.

Archäologische Funde bestätigen dies: Alte Koranmanuskripte, mit Ausnahme des Saana Manuskripts, aus der ersten islamischen Zeit zeigen keine signifikanten Unterschiede zu dem Text, den wir heute lesen. Es gibt somit nur ein Manuskripte, welches eine Version des Korans mit fehlenden oder zusätzlichen Versen aufweist, was jedoch durch Schulübungen erklärt werden kann. Diese Konsistenz zeigt, dass der Koran, wie er heute existiert, vollständig und authentisch ist.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es zwar historische Berichte gibt, die darauf hinweisen, dass bestimmte Verse des Korans fehlen könnten, diese jedoch auf das Konzept der Abrogation zurückzuführen sind. Dr. Shabir Ally zeigt in seinem Vortrag, dass diese Idee aus modernen wissenschaftlichen und historischen Perspektiven als unnötig angesehen wird. Historische Beweise und die übereinstimmenden Koranmanuskripte aus der frühesten islamischen Zeit deuten darauf hin, dass der Koran, wie wir ihn heute haben, vollständig und unverändert ist.

Dieser Artikel basiert auf den Ausführungen von Dr. Shabir Ally im QuranSpeaks-Video.

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