Der Koran, das heilige Buch des Islam, gilt als die wörtliche Offenbarung Gottes (Allah) an den Propheten Muhammad und hat eine zentrale Rolle im Leben von über 1,8 Milliarden Muslimen weltweit. Er ist der spirituelle Leitfaden und wird von den Gläubigen als unveränderlich und ewig betrachtet. Doch immer wieder taucht die Frage auf: Wurde der Koran verändert? Dieser Artikel beleuchtet die Überlieferungsgeschichte des Korans, die Beweise für seine Bewahrung, aber auch Überlieferungen, die auf mögliche fehlende Verse oder Suren hinweisen, und die damit verbundenen Schwierigkeiten.
Die Ursprünge und Überlieferung des Korans
Die Offenbarung des Korans begann im Jahr 610 n. Chr., als der Prophet Muhammad die ersten Worte in der Höhle Hira erhielt. Über einen Zeitraum von etwa 23 Jahren empfing Muhammad fortlaufend Offenbarungen, die die Grundlage des Korans bildeten. Diese Offenbarungen wurden von den Gefährten des Propheten, den Sahaba, sowohl mündlich auswendig gelernt als auch schriftlich festgehalten.
Nach dem Tod Muhammads im Jahr 632 n. Chr. war der Koran vollständig offenbart, aber noch nicht als einheitliches Buch zusammengeführt. Dies führte dazu, dass in den folgenden Jahren, insbesondere während des Kalifats von Abu Bakr und Uthman, ein systematischer Prozess der Kompilierung und Vereinheitlichung stattfand.
Die Sammlung unter Kalif Abu Bakr
Nach dem Tod des Propheten und insbesondere nach der Schlacht von Yamama, in der viele Sahaba starben, die den Koran auswendig kannten, entstand die Sorge, dass Teile des Korans verloren gehen könnten. Abu Bakr, der erste Kalif des Islam, beauftragte deshalb Zaid ibn Thabit, einen der engsten Schreiber des Propheten, den Koran in schriftlicher Form zusammenzustellen. Zaid sammelte die Koranverse von verschiedenen Quellen – schriftliche Aufzeichnungen und das Gedächtnis der Gefährten – und legte die erste offizielle Koranversion an. Dabei wurde streng darauf geachtet, dass jeder Vers durch Zeugen bestätigt wurde.
Die Vereinheitlichung unter Kalif Uthman
Unter dem Kalifat von Uthman, dem dritten Kalifen, kam es zu weiteren Differenzen in der Rezitation des Korans in verschiedenen Teilen des expandierenden islamischen Reiches. Um Konflikte zu vermeiden, entschied Uthman, eine offizielle Version des Korans zu erstellen und diese an die wichtigsten Städte des Reiches zu schicken. Zaid ibn Thabit leitete auch diesen Prozess. Dabei wurden alle anderen abweichenden Manuskripte verbrannt, um sicherzustellen, dass überall dieselbe Version verwendet wurde. Diese Version ist der Koran, der heute weltweit gelesen wird.
Der mündliche Aspekt: Die Tradition des Hifz
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Bewahrung des Korans ist die starke mündliche Tradition. Viele Muslime lernen den Koran vollständig auswendig, und diese Menschen werden als Hafiz bezeichnet. Die mündliche Überlieferung spielt seit den frühesten Tagen des Islam eine zentrale Rolle und ist bis heute ein wichtiger Bestandteil des muslimischen Glaubenslebens. Diese Tradition sorgt dafür, dass der Koran in seiner Originalsprache, dem Arabischen, genau und korrekt bewahrt wurde. Die große Zahl an Hafiz weltweit bedeutet, dass jede Abweichung im Text sofort bemerkt und korrigiert werden könnte.
Wissenschaftliche Beweise für die Authentizität des Korans
Die historische und wissenschaftliche Forschung unterstützt die Auffassung, dass der Koran weitgehend unverändert geblieben ist. Eine bedeutende Entdeckung in den 1970er Jahren, als in der Großen Moschee von Sanaa (im heutigen Jemen) alte Koranfragmente gefunden wurden, bot Forschern die Gelegenheit, frühe Manuskripte mit dem heutigen Koran zu vergleichen. Diese Manuskripte, die auf das 7. und 8. Jahrhundert datiert wurden, zeigten weitgehende Übereinstimmungen mit dem modernen Koran, was die These unterstützt, dass der Text über die Jahrhunderte hinweg in bemerkenswerter Weise bewahrt wurde.
Widersprüchliche Überlieferungen: Hinweise auf fehlende Verse?
Trotz der vielen Beweise für die Bewahrung des Korans gibt es in der islamischen Tradition einige Überlieferungen, die auf mögliche Lücken oder das Fehlen bestimmter Verse und Suren hinweisen. Diese Berichte stellen eine theologische Herausforderung dar, da sie im Widerspruch zur weit verbreiteten Überzeugung stehen, dass der Koran unverändert und vollständig ist. Zu den bekanntesten Berichten gehören:
- Der „Steinigungsvers“ (Ayat al-Rajm): In Hadith-Sammlungen wie Sahih al-Bukhari und Sahih Muslim wird berichtet, dass es einen Vers gegeben habe, der die Steinigung als Strafe für Ehebruch vorschrieb. Dieser Vers soll laut Berichten von Gefährten des Propheten wie Umar ursprünglich Teil des Korans gewesen sein, ist jedoch heute nicht mehr darin enthalten. Umar soll gesagt haben, dass dieser Vers zwar offenbart wurde, aber nicht mehr im Text enthalten ist, obwohl die Praxis aufgrund der Sunna des Propheten weiterhin als gültig betrachtet wird.
- Länge der Sura al-Ahzab: Einige Überlieferungen besagen, dass die Sura al-Ahzab ursprünglich deutlich länger war. Ein Hadith deutet an, dass diese Sure einst so lang wie die Sura al-Baqara gewesen sei, die 286 Verse umfasst. Heute enthält Sura al-Ahzab jedoch nur 73 Verse. Diese Diskrepanz hat einige Gelehrte dazu veranlasst, die Möglichkeit zu diskutieren, dass einige Verse verloren gegangen sind.
- „Vergessene“ Verse: In einer Überlieferung von Aisha, der Frau des Propheten, wird berichtet, dass bestimmte Koranverse verloren gingen, nachdem sie auf einem Blatt geschrieben waren, das von einem Tier gefressen wurde. Dieser Bericht wird oft als Hinweis darauf angesehen, dass einige Verse möglicherweise nicht in den endgültigen Koran aufgenommen wurden.
Wie gehen islamische Gelehrte mit diesen Berichten um?
Die Existenz dieser Überlieferungen hat zu intensiven Debatten unter islamischen Gelehrten geführt. Einige gängige Erklärungsansätze lauten:
- Nasikh und Mansukh (Abrogation): Eine häufig vorgebrachte Erklärung für das Fehlen bestimmter Verse ist das Konzept der Abrogation. Dabei geht es darum, dass einige Verse ursprünglich offenbart, aber später von Allah durch andere Verse ersetzt oder aufgehoben wurden. Solche abrogierten Verse wurden dann nicht in die endgültige Version des Korans aufgenommen.
- Unterschiede in den frühen Manuskripten: In der frühen islamischen Geschichte gab es möglicherweise geringfügige Unterschiede in den Überlieferungen und Manuskripten, die sich auf orthografische Details oder die Rezitation auswirkten. Der Standardtext, der unter Uthman erstellt wurde, sollte diese Unterschiede beseitigen, weshalb Berichte über „fehlende“ Verse auf solche frühen Variationen zurückgeführt werden könnten.
- Fehlinterpretationen oder schwache Überlieferungsketten: Viele islamische Gelehrte argumentieren, dass einige Berichte über fehlende Verse auf fehlerhaften Überlieferungen beruhen könnten. Die Hadith-Wissenschaft legt großen Wert auf die Überprüfung der Authentizität von Berichten, und nicht alle Hadithe, die überliefert wurden, gelten als gleichermaßen zuverlässig. Daher betrachten einige Gelehrte Berichte über fehlende Verse als problematisch und nicht zwingend glaubwürdig.
Fazit: Wurde der Koran verändert?
Die Frage „Wurde der Koran verändert?“ ist komplex und vielschichtig. Aus islamischer Sicht und nach den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung scheint der Koran in seiner heutigen Form im Wesentlichen unverändert erhalten geblieben zu sein. Die mündliche Überlieferung durch die Hafiz und die Maßnahmen zur schriftlichen Kompilierung des Korans unter den Kalifen Abu Bakr und Uthman trugen wesentlich dazu bei, dass der Koran bewahrt wurde.
Dennoch gibt es innerhalb der islamischen Tradition Berichte über fehlende oder abrogierte Verse, die verschiedene theologische Fragen aufwerfen. Während manche Gelehrte diese Berichte als Hinweise auf die Dynamik der Offenbarungsgeschichte interpretieren, sind andere der Ansicht, dass es sich um schwache oder missverstandene Überlieferungen handelt.
Insgesamt bleibt der Koran für Muslime das unveränderte Wort Gottes, und die meisten Gelehrten sind sich einig, dass seine Essenz und seine Botschaft seit der Zeit des Propheten Muhammad bis heute unverändert geblieben sind.
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